Soundtrip 68: Saadet Türköz & Nils Wogram

Im zweiten Soundtrip des Jahres treffen Saadet Türköz (Stimme) und Nils Wogram (Posaune) auf ihrer Tour durch NRW auf Improvisationsmusiker:innen der hiesigen Szene – in Hagen auf Jan Klare (Rohrblattinstrumente) und Martin Verborg (Violine ).

Aus den Tiefen der Überlieferung. Und dabei ganz gegenwärtig. Saadet singt in den Sprachen ihrer Vorfahren, kasachisch und türkisch. Und sie singt in den Sprachen der Phantasie, mit mächtiger Imaginationskraft. Aus Improvisationen erwachsen Lieder, in denen sich all das Leid und all die Freude, in denen sich die ganze Kraft des Lebens konzentriert. Lieder in den Zeiten weltweiter Wanderbewegungen. Songs als spitze Schreie und als leises Erinnern. Lieder wie Flammenzeichen und solche, die sanft aufleuchten, bevor sie langsam in der Stille versinken. In Nils Wograms Spiel wird die Posaune zur Stimme, zum lautmalenden Widerpart, zum Dialogpartner der Sängerin.

Nicht der zwanghafte Drang zur Innovation, sondern die emotionale Erneuerung aus dem Geist der Tradition – der des Jazz und der europäischen Musik wie der der folkloristischen Überlieferung – lässt Unerhörtes, so noch nicht Gehörtes entstehen. Muschelhaftes, Mystisches ebenso wie kindlich Hingetupftes auf schwingendem Metall und Melodica. Der Muezzin und das Rauschen des Marmara-Meeres. Lyrisches und Dramatisches. Die beiden erzählen Geschichten, mit Worten, Silben, Lauten, Klängen. Mit der Ernsthaftigkeit eines Gebetes und mit dem Überschwang eines Liebesabenteuers. Andacht, Freudenfest, Lamento. Imaginäre Folklore, ein eher inflationär in Umlauf gebrachter Begriff, meint hier all die Erfahrung eines Lebens als Nachfahrin der aus Ost-Turkestan Vertriebenen.

Saadet, aufgewachsen in Istanbul, heute wohnhaft in Zürich. Sesshaft nur, wenn man den Eintrag im Pass zum Maßstab nimmt. Improvisierende, wie Saadet Türköz, wie Nils Wogram, sind Wanderer, arbeitend in wechselnden Kontexten. Das Bild der Reise bedeutet hier mehr als die auf Landkarten ablesbaren Routen. Vergangenes, Vergegenwärtigtes, aktuell Empfundenes, Vorgestelltes, Geahntes. Kunstlied und Stegreifgesang. Klänge, die die Haut berühren, die sie streicheln, die auf ihr brennen, kleine Muster hinterlassend. Nur die Zeit heilt Wunden. Und der Trost des Gesanges. (Bert Noglik)